Metropoly

Der zweite Streich

Worte sind wild, frei, unverantwortlich und nicht zu lehren. Natürlich kann man sie einfangen, einsortieren und sie in alphabetischer Reihenfolge in Wörterbücher stecken. Aber dort leben sie nicht.

Mit Metropoly wird die Reihe »Der Zirkel der Phantanauten« fortgesetzt. Während der Geschichtenzyklus mit einem Jungen als Hauptfigur beginnt, muss im zweiten Band ein Mädchen wahrhaft phantastische Gefahren meistern. Doch zur Beruhigung der männlichen Leser: Metropoly ist alles andere als ein Mädchenroman. Lena, die Heldin der Geschichte, hat ein paar mutige Kerle an ihrer Seite und auch ihre Gegner sind handfeste Schurken. Im späteren Leben gelangte sie übrigens als Schriftstellerin unter dem Namen Virginia Woolf zu Weltruhm. So als spräche sie für alle weiblichen Phantanauten schrieb sie einmal von den Frauen, sie seien im Reich der Phantasie von höchster Bedeutung. Auf Lena Stephen trifft dies allemal zu, denn für Metropoly gibt es keine andere Hoffnung als sie.

Die Weltenbaumeisterin

London 1893 — Lena macht sich große Sorgen. Ihre Mutter ist schwer krank und bekommt Morphium gegen die starken Schmerzen. Obwohl die Medizin ihre Sinne benebelt und sie wie in tiefem Schlaf im Bett liegt, liest Lena ihr aus ihrem Aufsatz über Oliver Twist vor. Der Roman von Charles Dickens hat das Mädchen aufgewühlt. Lena kann nicht fassen, dass sich Kinder in Arbeitshäusern oder Fabriken krumm schuften müssen oder auf sonstige Weise ausgebeutet werden. Um seine Tochter auf andere Gedanken zu bringen, nimmt ihr Vater Leslie sie mit zu Mr Arthur Conan Doyle. Der berühmte Schriftsteller braucht Leslies Wissen für eine neue Geschichte über seinen Meisterdetektiv Sherlock Holmes. Während die beiden Männer fachsimpeln, darf Lena sich im Haus des Schriftstellers umsehen. Dabei entdeckt sie in einer mit merkwürdigen Reisemitbringseln angefüllten Rumpelkammer einen noch merkwürdigeren Gegenstand. Es ist ein Metallstück aus Bronze mit roten Rubinsplittern, rätselhaften Linien und fremdartigen Schriftzeichen. Es sei ein Teil des Phantalabiums, erklärt ihr ein überraschter Mr Conan Doyle. Lena kann mit dieser Erklärung zunächst nicht viel anfangen, doch der Fund bringt ihr eine Einladung nach Irland ein.

Einige Wochen später reist Lena ins irische Loughrea. Ihre Leidenschaft ist das Schreiben - sie verfasst sogar eine eigene Hauszeitung. Daher ist sie sehr gespannt auf das, was sie am Loch Riach - dem »Grauen See« - erwartet. Jedes Jahr trifft sich hier nämlich der Zirkel der Phantanauten. Auf der Burg von Lord Seanan Alistair erzählen sich die jungen Mitglieder des Kreises von ihren Abenteuern in phantastischen Welten. Aus ihren Reihen sind schon viele berühmte Schriftsteller hervorgegangen. Obwohl Lena die Sorge um ihre kranke Mutter nicht verdrängen kann, fasziniert sie doch die Aussicht, selbst eine Phantanautin zu werden. Allerdings muss sie dazu im Traum erst eine eigene Welt erschaffen. Hierzu verbringt sie eine Nacht in der Kammer der Weltenbaumeister und tatsächlich sieht sie im Schlaf eine Stadt, die ein Paradies für Kinder zu sein scheint. Jungen und Mädchen brauchen dort nichts anderes zu tun, als immerfort zu spielen. Am nächsten Morgen taucht Lena in den Fluten des Loch Riach unter. Als ihr Kopf wieder durch die Wasseroberfläche stößt, befindet sie sich in Metropoly.

Die »Stadt der Kinder und des ewigen Spiels« ist alles andere als ein Schlaraffenland, das wird Lena schon ziemlich schnell klar. Spielen ist hier oberste Pflicht. Pekunia, die Herrscherin des bunten Reiches, ist allgegenwärtig. Auf Abertausenden von Plakaten prangt ihr Gesicht. Es heißt, sie könne ihre Untertanen mithilfe der Bilder überwachen? Jedenfalls bestraft sie jeden, der sich ihren Anordnungen widersetzt. Ihre Häscher - lebendige Strohpuppen in blechernen Rüstungen - machen gnadenlose Jagd auf diese »Spielverderber«. In seltsam verzerrter Weise erinnert Lena all das an die Lektüre ihres Oliver Twist. Wie in dem Dickens-Roman werden Kinder auch in Metropoly ausgebeutet, nur ist die Zwangsarbeit hier schöner verpackt. Doch was verspricht sich die Königin davon? Spätestens als Lena einem Jungen mit runzligem Greisgesicht begegnet, ahnt sie Unheilvolles. Sie setzt sich in den Kopf, ihre Traumwelt aus den Fängen Pekunias befreien. Doch scheinbar wollen sich die Kinder hier gar nicht helfen lassen.

Dann aber trifft sie Tunichtgut. Er ist erst dreizehn Jahre alt - sieht aber aus wie hundert - und führt eine Rotte von Rebellen an. Die Spielverderber wollen die Flucht aus Metropoly wagen. Aber ist dies überhaupt möglich? Pekunia behauptet, ihr Reich sei grenzenlos. Die Rebellen fühlen sich von dem Mädchen aus der anderen Welt in ihrer Hoffnung auf Befreiung bestärkt. Sie geloben, ihm zu folgen, wohin immer es gehe. Ein abenteuerlicher Marsch beginnt, dessen Ausgang nicht nur für Lena ungewiss ist. Für sie stellt sich nicht allein die Frage, ob ihre Freunde den Fängen der Königin und ihrer Strohmänner entkommen, sondern ob sie selbst jemals wieder in ihre eigene Welt wird zurückkehren können.

Metropoly
Metropoly (Wendeumschlag der Thienemann-Erstausgabe von 2008)

Worte sind wild, frei, unverantwortlich und nicht zu lehren. Natürlich kann man sie einfangen, einsortieren und sie in alphabetischer Reihenfolge in Wörterbücher stecken. Aber dort leben sie nicht.

Metropoly
Metropoly (Wendeumschlag der Thienemann-Erstausgabe von 2008)

Kinderarbeit früher und heute

Vordergründig ist Metropoly eine spannende Abenteuergeschichte in einer fremden, phantastischen Welt. Doch wie im ganzen Phantanautenzyklus gibt es auch hier eine »zweite Ebene«, welche sich nur jenen Lesern erschließt, die zwischen den Zeilen lesen können und möchten. Der Roman hinterfragt die Wachstum-um-jeden-Preis-Mentalität moderner Wirtschaftsunternehmen sowie die damit einhergehenden Methoden. Der Schwerpunkt liegt dabei klar auf der Ausbeutung von Kindern. Nicht nur im 19. Jahrhundert, in dem die Handlung angesiedelt ist, war Kinderarbeit weit verbreitet, auch in der Gegenwart schuften sich Jungen und Mädchen krank und krumm. Doch der »Wirtschaftsfaktor Kind« hat noch andere Facetten. Für weiterführende Hintergrundinfos klicken Sie bitte hier .