Das Universum des Ralf Isau — Einführung in ein phantastisches Weltmodell

Was ist das Universum des Ralf Isau?

Die phantastische Literatur geht davon aus, dass die einzige Wirklichkeit, die wir ehrlicherweise darstellen können, die ist, die wir selbst erfinden.

Vor einigen Jahren lief ich in Garmisch-Partenkirchen nach einer Lesung über die Straße und traf plötzlich einen alten Berliner Schulfreund, der dort zufällig einen Verwandtenbesuch machte. Ähnliches haben wohl die meisten von uns schon einmal erlebt. Die Welt ist eben klein. Und mein Phantaversum ist es auch.

Phantaversum

Phantaversum? Sollte Ihnen dieser Begriff bisher nicht vertraut, ist dies mehr als verzeihlich - er wurde nämlich von mir erfunden. Genau genommen ist er das Produkt einer langjährigen, mühevollen Forschungsarbeit auf dem Gebiet der Phantastik, die wohl mit der Lektüre von Michael Endes Roman Die unendliche Geschichte begonnen und über der Arbeit am »Zirkel der Phantanauten« einen vorläufigen Höhepunkt erreicht hat. Besagte Romanreihe widmet sich der Frage, wie aus unserer Welt neue Phantasiereiche entstehen und welche Wechselbeziehungen sich daraus ergeben. Im Zuge dieser Arbeit - die übrigens weniger wissenschaftlich ist, als es sich anhört - wurde der Begriff »Phantaversum« geprägt. Gewissermaßen als Abfallprodukt besagten »Zirkels« entsteht das Wörterbuch der Phantanauten, der lexikalische Teil der Bibliotheca Phantanautica. Darin heißt es, das Phantaversum sei der »Kosmos, der sämtliche Phantasiewelten und das materielle Universum umfasst.«

Sinnfälligerweise werden Autoren phantastischer Literatur ja bisweilen auch als »Weltenschöpfer« bezeichnet. Die kollektive Kreativität all dieser Schriftsteller lässt das Phantaversum unablässig wachsen. Nun konnte ich meine überschäumende Phantasie noch nie sehr lange zügeln. Deshalb erschrieb ich mir gleich eine ganze phantastische Galaxis. Schon vor Jahren hatte ich diese »Das Universum des Ralf Isau« genannt. Dieser eigene Kosmos fügt sich nahtlos ins Phantaversum ein. Ständig fügt es unserer Heimatwelt - der Erde - weitere Phantasiereiche hinzu: Neschan, Quassinja, Azon, Mirad, Rád, Metropoly ... Die Liste wird immer länger.

Stillschweigende Übereinkunft

In meinen Büchern schaffe ich die Illusion einer Wirklichkeit, die es tatsächlich so nicht gibt. Ich vertrete jedoch die Ansicht, nur solche Autoren vermögen ihre Leser zu fesseln, die mit ihnen ein stillschweigendes Übereinkommen treffen: Wenigstens für die Dauer der Lektüre sind auch die phantastischsten Einfälle wahr. Spinnt man diesen Gedanken konsequent weiter, ergibt sich daraus folgender Schluss: Wenn die materielle Welt zu einem Dorf geworden ist und Begegnungen zwischen bekannten Personen jederzeit und überall möglich sind, dann muss dies logischerweise auch im Phantaversum denkbar sein. Und es geschieht! Im Zentrum meines Universums steht, ohne dass es so geplant war, die Saga Der Kreis der Dämmerung. Wenn also der Held dieser Tetralogie, David Camden, und Jonathan Jabbok aus der Neschan-Trilogie dasselbe Erdenjahr durchleben, teilen sie sich die von mir geschaffene Wirklichkeit. Sie sind Zeitgenossen. Warum sollen sie sich dann nicht auch begegnen können? Wer die Romane gelesen hat, weiß, was ich meine.

»Hitchcock-Effekt«

Solche Querverbindungen habe ich mir zum Prinzip gemacht. Nennen wir es eine Marotte. Ständig trifft man auf Bekanntes - meist sind es Figuren aus anderen Geschichten. Mir macht das genauso viel Spaß, wie es wohl dem Regisseur Alfred Hitchcock diebische Freude bereitet haben muss, immer wieder für wenige Sekunden in den eigenen Filmen aufzutreten. Deshalb nenne ich die erwähnten Berührungspunkte meiner verschiedenen Geschichten gelegentlich auch den Hitchcock-Effekt. So wie es für den Krimizuschauer keine Rolle spielt, ob er nun Hitchcock durchs Bild stapfen sieht oder nicht, so muss auch der Leser meiner Bücher nicht wissen, dass eine bestimmte Figur in einem anderen Roman schon einmal eine Rolle gespielt hat. Die wahre Ausdehnung meines Universums wird hingegen nur von jenen Lesern erkannt, die mir über eine längere Zeit treu bleiben. Die aber freuen sich gewöhnlich über ein Wiedersehen mit alten Bekannten umso mehr.

Ralf Isau
Das Universum von Ralf Isau; Prof. Shinichi M. Sakayori (Hrsg. - mehr darüber erfahren Sie hier).

Die phantastische Literatur geht davon aus, dass die einzige Wirklichkeit, die wir ehrlicherweise darstellen können, die ist, die wir selbst erfinden.

Ralf Isau
Das Universum von Ralf Isau; Prof. Shinichi M. Sakayori (Hrsg. - mehr darüber erfahren Sie hier).

Grafische Darstellung des Isauschen Phantaversums

Der japanische Übersetzer meiner Werke, Shinichi M. Sakayori, hat in seinem Buch Das Universum von Ralf Isau verschiedene Querverbindungen zwischen meinen Phantasiereichen aufgezeigt. Dieses Beziehungsgeflecht wurde von der Zeichnerin Asaki Honda in die unten stehende Grafik umgesetzt (hier aktualisiert und ins Deutsche übersetzt). Die dunkel unterlegten Trabanten bzw. Textkästen verweisen auf Werke anderer Autoren bzw. reale Personen:

Das Universum des Ralf Isau
© Asaki Honda 2008, Nagasaki publishing, Ralf Isau
(zum Vergrößern bitte anklicken).

Das Phantastische Weltmodell

Über das Werden und das Vergehen wie auch über die Gestalt des materiellen Universums wurden im Laufe der Menschheitsgeschichte alle möglichen Theorien entwickelt. Nach altem Hindu-Glauben ruht die Erde auf sechs Elefanten, welche ihrerseits auf einer riesigen Schildkröte stehen. Mal glaubte die Wissenschaft, die Erde sei eine Scheibe, dann wieder wurde sie für ein Zylinder gehalten. Das ptolemäische Weltbild stellte die Erde in den Mittelpunkt des Kosmos. Heute werden andere Modelle vom materiellen Universum bevorzugt. Es werden wohl noch weitere hinzukommen. All diese Entwürfe sind letztlich vereinfachte Darstellungen gewesen, um die sehr komplexe Wirklichkeit für den menschlichen Verstand greifbarer zu machen. Da ist es nur folgerichtig, wenn auch ich mir über den Aufbau und die Dynamik in meinem Phantaversum einige Gedanken gemacht habe. Im April 2007 veröffentlichte ich auf labyrinthe.com, Roman Hockes Onlinegalerie für phantastische und visionäre Künste, unter dem Titel »Das Phantastische Weltmodell« ein vorläufiges Zwischenergebnis meiner Suche nach dem besten Ansatz. Das las sich dann so:

Das Phantastische Universum lässt sich am besten durch ein dynamisches Schalenmodell beschreiben. Der innere Kern ist wie bei der Erde heiß, flüssig und ständigen Veränderungen unterworfen. Michael Ende hat dieser Region den Namen Phantásien gegeben. Sie wird aus der kollektiven Innenwelt aller Menschen ständig neu gebildet und sorgt dafür, dass sich das Phantastische Universum ständig ausdehnt. Ähnlich einer Zwiebel besteht dieses aus mehreren Schichten, die den Kern umschließen. Je weiter innen diese Schalen liegen, desto mehr unterscheiden sie sich von unserer Außenwelt. In der Zentralregion liegen Tolkiens Mittelerde, Lewis’ Narnia, Isaus Quassinja, Neschan oder Mirad - alles eigenständige Welten, teils mit eigenen Naturgesetzen. Auf dem weiteren Weg nach außen durchqueren wir Reiche wie Liliput oder Brobdingnag, die uns Jonathan Swift in Gullivers Reisen vorgestellt hat - sie gleichen unentdeckten Gegenden der Erde, in welchen wir Liliputaner, Riesen und manch anderes Wundersames entdecken können. Schon weit vom Kern entfernt liegen die utopischen Welten, etwa die in Orwells Roman 1984 beschriebene, in der »Big Brother« über alles und jeden wacht. In den äußeren Randbezirken will uns die Unterscheidung von unserer realen Welt kaum noch gelingen. Dort wohnen ebenso Michael Endes Protagonisten Bastian Balthasar Bux und Karl Konrad Koreander wie auch Isaus Romanhelden Jonathan Jabbok und David Camden. Nach Ansicht einiger Theoretiker gibt es im wirklichen Universum Wurmlöcher, durch die man im Handumdrehen weit entfernte Galaxien erreichen kann. Im Phantastischen Universum ist es nicht anders. So vermag Bastian durch ein Buch nach Phantasien zu gelangen oder Johathan durch seine Träume nach Neschan.

Die aus dem flüssigen Kern resultierende Dynamik des Phantastische Universums bewirkt ein allmähliches Wandern der inneren Schalen nach außen. Bisher konnte nicht eindeutig geklärt werden, ob sie dadurch der realen Welt ähnlicher werden oder ob es die äußere Welt ist, die sich der fiktiven angleicht. Jedenfalls lässt sich anhand zahlreicher Beispiele nachweisen, dass Manches, was vor hundert oder gar nur fünfzig Jahren noch als Ausgeburt blühender Phantasie angesehen wurde, heute zur Realität geworden ist. Die Zukunftsvisionen von Jules Verne belegen dies ebenso wie die bereits erwähnte Utopie George Orwells von einem totalen Überwachungsstaat, der - getarnt als Verteidigung gegen den Terrorismus und die organisierte Kriminalität - eingangs des 21. Jahrhunderts mehr und mehr Gestalt annimmt.

Die vorstehend beschriebene Theorie des Phantastischen Weltmodells verdeutlicht, wie wichtig Kreativität und Phantasie für die reale Welt ist. Solange der innere Kern des Phantastischen Universums heiß und flüssig ist, werden neue Schalen gebildet, die über mehr oder weniger lange Zeitraume in die reale Außenwelt übergehen und darin Neues hervorbringen. Wenn Kunst und Spiel, Phantasie und Träumereien jedoch im gesellschaftlichen Leben als unproduktiv angesehen werden, als belastender Kostenfaktor, der in der sozialen Bedürfnishierarchie immer weiter unten anzusiedeln ist, dann wird sich der innere Kern des Phantastischen Universums abkühlen und schließlich ganz erstarrten. Damit würde auch der Austausch zwischen dem Phantastischen und dem realen Universum und schließlich der Fortschritt in unserer äußeren Welt zum Erliegen kommen.

Seit diesem Aufsatz hat die phantaversische Grundlagenforschung nicht geruht. Vor allem der immaterielle - der in unserer Vorstellungskraft existierende - Teil des Phantaversums hat durch die Arbeit am »Zirkel der Phantanauten« eine weitere Differenzierung erfahren. Dieser Bereich wird in der Romanreihe von mir erstmals als »Meer der Träume« bezeichnet. Hierzu noch einmal das Wörterbuch der Phantanauten:

Meer der Träume; sämtliche existierende Phantasiewelten sind - auch wenn sie sich ihren Bewohnern als kugelförmig oder andersgestaltig darstellen mögen - Inseln im M. Das für uns sichbare Universum und das Meer der Träume ergeben zusammen das Phantaversum.

Fazit

Wie in der Astrophysik sind auch in der Wissenschaft vom Aufbau und der Beschaffenheit der phantastischen Welten ständig neue Erkenntnisse zu erwarten. Die vorstehend beschriebenen Theorien zeigen eines jedoch ganz klar: Phantasie ist nichts von unserer Realität Losgelöstes. Vielmehr entspringen die immateriellen Bereiche des Phantaversums der sinnlich wahrnehmbaren Welt und zugleich verändert es diese immerfort. Die Phantasie im Allgemeinen und die Phantastische Literatur im Besonderen als Realitätsflucht (Eskapismus) abzutun, zeugt von großer Unwissenheit. Der nicht zu leugnende stetige Wandel ist keineswegs zwangsläufig positiv. Nur ein bewusstes Gestalten zum Guten führt auch zu einer Verbesserung. Dies ist eine kollektive Pflicht. »Weltverbesserer« sollte daher nicht länger ein Schmähwort sein, sondern die Bezeichnung für Menschen, die ihre gemeinschaftliche Verantwortung annehmen. Wenn das Universum des Ralf Isau als kleiner Beitrag zu dieser großen Aufgabe angesehen wird, dann macht mich da sehr froh.